Georegion
Digitale Exkursionen (2)

 (2) Der Berg im Hintergrund von Dürers "Großer Kanone"

von: Waltraud Herbst & Gottfried Hofbauer (Juni 2022)


Abb. 1   Dürers "Die große Kanone". Abdruck nach seiner Eisenradierung aus dem Jahr 1518. Die Platte hat ein Format von 21,9 x 32,4 cm. Abdrucke finden sich in verschiedenen Museen, u.a. in der Albertina Wien, im Grafikkabinett Backnang, im Städelmuseum Frankfurt (Main) oder auch der Staatsgalerie Stuttgart. Im folgenden gilt zu beachten, dass die Abdrucke der Radierung stets ein zur natürlichen Ansicht seitenverkehrt gespiegeltes Bild ergeben.


1. Die neue Sicht

Lange nahm man an, dass Albrecht Dürers Graphik "Landschaft mit Kanone" von 1518, auch bezeichnet als "Die große Kanone", den Ort Kirchehrenbach mit der Ehrenbürg (Walberla) im Hintergrund zeigt. Doch an der Wende zum Jahr 2020 hat diese als etabliert geltende Ansicht fundamentale Erschütterung erfahren. Dr. Christof Metzger, Chefkurator des Museums Albertina in Wien, hat in Vorträgen an der Friedrich-Alexander-Universiät in Erlangen (2. Dezember 2019) und, etwas später in Eschenau (10. Januar 2020), mit guten Gründen dargelegt, dass es sich stattdessen um Eschenau und den dahinter gelegenen Lindelberg handele [zu Anm.1] .

Diese Nachricht schlug in Franken erhebliche Wellen. Die Frage, die sich viele vermutlich zuerst stellten: Lindelberg? Während das Walberla nicht zuletzt wegen seiner markanten Kontur und der jährlichen Festivitäten elementarer Bestandteil im visuellen Vorstellungsraum jedes Franken sein dürfte, werden bisher nur wenige vom Lindelberg gehört haben.

Die Neuverortung der Großen Kanone wurde nicht von allen Seiten mit Begeisterung aufgenommen. Während in Eschenauer Konditoreien "Düren-Kugeln" verkauft werden und die "Große Kanone" in das lokale Ansichtskarten-Sortiment aufgenommen wurde, haben nicht nur Kirchehrenbacher kritisch reagiert. Wir haben versucht, den wichtigsten Hypothesen zur Landschaft hinter der großen Kanone nachzugehen und sie - vor allem mit visuellen Argumenten - zu beurteilen.


2. Die Hypothese Kirchehrenbach/Walberla

Angesichts der Popularität und der auffälligen Kontur des Walberlas ist es nicht verwunderlich, dass der landschaftliche Hintergrund in Dürers Kanone damit in Beziehung gesetzt wurde. Man könnte sogar vermuten, dass die Bekanntheit des Walberlas zu einer Art selbstverständlich-assoziativer Verbindung mit der Grafik Dürers geführt haben könnte: Welcher Berg hat denn sonst so steile Flanken und erscheint in so freigestellter Weise in der Landschaft? Wahrscheinlich wurde so zuerst der Berg identifiziert, dann in einem nächsten Schritt das davor gelegene Dorf verortet: wenn der Berg das Walberla war, dann konnte das Dorf nur Kirchehrenbach sein.

Der beste Blick über das Walberla ist zweifellos von der Kapelle Reifenberg aus zu gewinnen (Abb. 2). Diese Perspektive ist auch bei Geowissenschaftlern beliebt, weil sie zugleich auch den Zeugenberg-Charakter des Berges deutlich aufzeigt. Die im Verlauf der Schichtstufenland-Morphogenese erfolgte Freistellung des Walberlas vor der Schichtstufe der Frankenalb trägt wesentlich zu dessen individuellem Erscheinungsbild bei. Dazu kommt die unverwechselbare Gestalt des Berges, die in Längs- wie Querrichtung von sattelartigen Einmuldungen geprägt wird.



Abb. 2   Das Walberla von der Reifenberger Kapelle aus gesehen. Man beachte die von sattelartigen Einmuldungen geprägte Kontur des Berges. Diese bemerkenswerte Gestalt ist Folge eines engräumigen Nebeneinanders unterschiedlich verwitterungsanfälliger Karbonatgesteine. Während man in den Vertiefungen auf gebankte Kalksteine trifft, werden die erhabenen Bereiche von abtragungsresistentem Dolomitgestein ("Schwammriffe") aufgebaut. Die besondere Form des Berges geht also mit seinem besonderern geologischen Aufbau einher. Foto: Hofbauer



Abb. 3   Blick über das Walberla, von SO-Gipfel (Rodenstein) nach NW gesehen. Deutlich ist die im Mittelgrund quer SW-NO verlaufende Geländemulde zu sehen. Weniger markant ist hingegen die dahinter gelegene NW-SO angelegte Einmuldung im Bereich der Walpurgis-Kapelle, in deren Achse wir vom Standpunkt aus blicken. Dennoch ist es diese nur schwach eingemuldete Form, die man in der "Großen Kanone" - aus der Gegenrichtung über Kirchehrenbach gesehen - zu erkennen meinte. Über - bzw. hinter - diesem Sattel ist die Kapelle von Reifenberg (der Standpunkt in Abb. 2) zu erkennen (Markierung: weißer Pfeil), während das tiefer hinter dem Walberla gelegene Kirchehrenbach aus dieser Sicht verdeckt ist. Foto: Hofbauer

Nach Mitteilung von Dr. Metzger war es der Kunsthistoriker Otto Mitius (1865-1926), der als erster in einer 1911 erschienenen Publikation das Walberla als den Berg hinter der Kanone bestimmt hat (Abb. 4).

Abb. 4   Die im Jahr 1911 in Nürnberg erschienene Studie von Otto Mitius Die Landschaft auf Dürers Eisenradierung "Die Große Kanone" vom Jahre 1518 ist die erste kunstgeschichtliche Arbeit zur Verortung des Stichs (erschienen in: Mitteilungen des Germanischen Nationalmuseums 1911, S. 141-149).

Der Artikel ist einleitend mit dieser vom Autor angefertigten Fotografie versehen. Die Aufnahme erfolgte vom Talgrund der Wiesent aus, so wie nach Meinung des Autors auch Dürer die Situation gesehen hat. Der erhöhte Standpunkt in dessen Radierung wäre demnach ein Akt der "künstlerischen Freiheit" und nicht die wirkliche Perspektive gewesen.

Die markante Kontur des Walberlas ist der Ausgangspunkt der Orientierung. Diese Kontur lässt es zu, scheinbar zuverlässig die nach NW orientierte Schmalseite des Berges als die von Dürer gewählte Ansicht zu bestimmen. Dieses visuelle Argument ist das für die Zuordnung wesentliche Kriterium und der Meinung des Autors zufolge evident:

Wer die photographische Aufnahme der Ehrenbürg mit Dürers Radierung [...] vergleicht, wird nicht daran zweifeln, daß wir hier die beschriebene Landschaft vor uns haben, und wird die Beobachtung bestätigen, die ich selbst immer wieder an Ort und Stelle nachzuprüfen Gelegenheit fand [...]

Das landschaftliche Gepräge und die Geländeverhältnisse sind hier dieselben. Im Hintergrunde der wuchtige freistehende Berg mit den gleichhohen und gleich- gestalteten Kuppen, dieselbe Randlinie des Baumwuchses an dem steilen Abhange, davor das gartenreiche Dorf mit der Kirche auf erhöhtem Platz und in der gleichen Lage und Richtung nach Nordosten das andere Dörfchen mit Kirchturm und Schloß [Pretzfeld, WH & GH], das der Meister nur näher heranrückte um es in den Rahmen eines Bildes zu fassen.

Mitius sieht durchaus auch einige Differenzen. So scheint die Kirche in der Radierung eine andere Ausrichtung zu haben, doch ihre innerhalb des Dorfes erhöhte Lage vermeint er bei Dürer wiederzuerkennen und als Gewähr zu sehen, dass es sich dabei wohl doch um Kirchehrenbach handelt - dies um so mehr, als er einen Umbau der Kirche nach Dürers Zeit belegen kann. Andere Differenzen zwischen Dürers Stich und der von Mitius fotografisch dokumentierten Ansicht können auch als Folge künstlerischer Freiheit interpretiert werden (S. 144).

Als Ausdruck dieser Freiheit sieht Mitius auch den im Stich eingenommenen erhöhten Standpunkt (S. 145). Der tatsächliche Standpunkt Dürers war seiner Meinung nach im Talgrund der Wiesent: [...] dass sich der Meister, gebannt von dem Anblick diese gottgesegneten Tales mit der einzigartigen Erscheinung der Ehrenbürg im Hintergrunde, am Ufer der kristallklaren Wiesent oberhalb der Mühle, etwa 10 Minuten nordwestlich vom Orte, auf grünem Wiesengrunde niedergelassen habe, um sich das köstliche Landschaftsbild für seine Wandermappe zu erhalten.

Konkrete Hinweise auf Dürers Aufenthalt in oder bei Kirchehrenbach kann Mitius allerdings nicht anführen. Er nimmt an, dass Dürer entweder im Jahr 1517 (Aufenthalt in Bamberg) oder 1519 auf dem Weg in die Niederlande einen Abstecher ins Wiesent-Tal unternommen habe. Wir sind jedoch skeptisch und glauben nicht, das Dürer das Wiesenttal besucht hat - hätte er sich in einem solchen Fall wirklich mit der Skizze nur einer einzigen Ansicht zufrieden gegeben?

Nachhaltige weitere Unterstützung könnte die Walberla-Hypothese durch das Werk von Rudolf Helm erhalten haben, der in seinem im Jahr 1940 erschienenen Werk Das Bauernhaus im Gebiet der Freien Reichsstadt Nürnberg ebenfalls diese Ansicht vertrat, ohne sich dabei auf Mitius oder einen anderen Autor zu beziehen. Das Buch erlebte im Jahr 1978 - mit leicht verändertem Titel - eine nochmalige inhaltsgleiche Auflage [zu Anm. 2] .

Darin wird ein zentraler Bildausschnitt der "Großen Kanone" mit der Unterschrift Albrecht Dürer: Kirchehrenbach (Aus dem Stich "Die große Kanone") wiedergegeben (Abb. 5). Dem Autor ging es offenbar weniger um den Berg, als um die Dorflandschaft mit ihren Häusern, die hier ungeachtet ihres für das "Altnürnberger Land" charakteristischem Stil am Fuss des Walberlas zu liegen kommt.

Abb. 5   Tafel 4 aus Rudolf Helm (1978): Das Bauernhaus im Alt-Nürnberger Gebiet. Oben die Verortung von Kirchehrenbach im Druck der Radierung, unten eine Vorzeichnung Dürers (seitenrichtig), ebenfalls mit der Zuweisung "Kirchehrenbach". Man beachte die in den beiden Versionen unterschiedlich akzentuierte Kontur des Berges im Hintergrund, dessen Flanken in der Vorzeichnung deutlich weniger markant erscheinen.
Diese beiden Grafiken fanden sich bereits in der ersten Ausgabe von 1940 - die Vorzeichnung geriet im Zweiten Weltkrieg aus einer niederländischen Sammlung in russische Hände und ist seitdem nicht mehr öffentlich zugänglich.

Helm hat die Vorzeichnung vermutlich deshalb dazugestellt, weil sie in Hinblick auf den Hausbau etwas detailreicher als die Radierung erscheint. Das legt zumindest sein Text nahe (1978, S. 16). Weder der Berg im Hintergrund noch die Identität der Ortschaft werden darin zur Diskussion gestellt. Offenbar wurde die Zuordnung zu Walberla und Kirchehrenbach zur Zeit der ersten (inhaltsgleichen) Veröffentlichung des Werks im Jahr 1940 als so gesichert angesehen, dass sich entsprechende Diskussionen erübrigten.


Alternative: Der erhöhte Standpunkt Dürers

Wenn man den erhöhten Standpunkt Dürers nicht als Akt der künstlerischen Freiheit, sondern als tatsächlich wahrgenommene Perspektive verstehen möchte, tun sich nochmals weitere Fragen auf. Betrachtet man den erhöhten Standpunkt nur als künstlerische Zutat, hätte Dürer die ganze Ortsanlage ohne unmittelbar existierende Sicht-Vorlage konstruieren müssen. Das ganze Bild wäre, ausgenommen vom Hintergrund mit dem Walberla, eine imaginäre Aufsicht. Das ist unserer Meinung nach unwahrscheinlich.

Einen solchen erhöhten Standpunkt gibt es aber am unmittelbaren Ortsrand von Kirchehrenbach nicht. Denkbar wäre allerdings ein Standpunkt auf der N-lichen Seite des Wiesent-Tales, etwa im Bereich von Weilersbach (siehe dazu Abb. 2). Dann wäre man aber zugleich gewungen, in Dürers "Kanone" den gebäudearmen Bereich im Mittelgrund, also zwischen dem Ortskern mit der Kirche und den Häusern unter der Großen Kanone, als den weiten Talgrund der Wiesent zu verstehen. Dies könnte eine mögliche Interpretation von Vertretern der Walberla-Hypothese (gewesen) sein. In einem solchen Fall wäre der Querschnitt durch das Wiesent-Tal allerdings bei Dürer perspektivisch stark verkürzt wiedergegeben.

Eine über das Wiesenttal hinweg gezeichnete Ansicht hat uns Ludwig Neureuhter (1820) überliefert (Abb. 6). Die Wegführung wie die Sicht in die Achse des Sattels (mit der Walpurgis-Kapelle) zeigen durchaus Ähnlichkeit zu Dürers Grafik. In dieser Ansicht wird aber auch deutlich, dass eine solche Bestätigung der Walberla-Interpretation aber wiederum dadurch untergraben wird, dass nun die Kirche von Kirchehrenbach aus dieser Linie herausrückt. Gehen wir von einer präzisen landschaftlichen Wiedergabe in Dürers Radierung aus, dann treffen wir bei der Diskussion der Walberla-Hypothese auf einige inkompatible Aspekte. Nicht die Form des Berges ist das Problem, sondern die Lage der Kirche von Kirchehrenbach zur Blicklinie.

Abb. 6 Ludwig Neureuther (1774-1832), gezeichnet 1820: Kirchehrenbach mit der Ehrenbürg. [Quelle: zu Anm. 3]. Hier blickt der Betrachter zwar auf die NW-Schmalseite des Walberlas mit der im Sattel gelegenen Walpurgis-Kapelle, aber die Kirche von Kirchehrenbach ist weit aus der Linie zwischen Standpunkt und der Sattelachse gerückt. Schwach angedeutet ist im Hintergrund links die hinter dem Zeugenberg gelegene Schichtstufe der Nördlichen Frankenalb. Ambivalent ist jedoch der Blick von oben und der zur Ortskirche hinführende Wegverlauf durch das Wiesenttal, dessen Weite mit dem gebäudearmen Mittelgrund in Dürers "Großer Kanone" gleichgesetzt werden könnte.



3. Blick von der Marloffsteiner Höhe?

Schon bald nach Bekanntmachung der Eschenau-Hypothese im Lokalteil "Erlangen-Höchstadt" bzw. "Forchheim" der Erlanger Nachrichten (15. bzw. 16. Januar 2020) erschien in der gleichen Zeitung am 30. Januar ein Leserbrief von Reinhold Lindner. Herr Lindner, ehemaliger Bürgermeister von Marloffstein und engagierter Heimatforscher, hatte bereits im Jahr 2002 die Vermutung publiziert, dass Albrecht Dürer auch Marloffstein besucht haben könnte und die "Große Kanone" möglicherweise hier zu verorten wäre [zu Anm. 4].

Zu Dürers Zeit war der Nürnberger Patrizier, Sigmund Pfinzing (1479-1554) Amtmann der zum Fürstbistum Bamberg gehörenden Burg und Gemeinde Marloffstein. Von dessen Bruder, Melchior Pfinzing, Probst in St. Sebald in Nürnberg von 1512 -1517, schuf Dürer eine Porträtzeichnung und so ergab sich wohl die Verbindung zur Familie Sigmund Pfinzings. Auch von Sigismund Pfinzing gibt es ein Porträt, und dieses vergleicht Lindner mit der Person im Vordergrund der Radierung der "Großen Kanone". Diese auffällige und von manchen als "Türken" interpretierte Figur könnte demnach Sigmund Pfinzing sein, der als Besitzer der Kanone von hochrangigen Begleitern umgeben ist (Abb. 7-8).

Abb. 7-8 Vergleich des Bildnisses von Sigismund Pfinzig (Abb. 5) und des Mannes an der "Großen Kanone" (Abb. 6). [Quelle: zu Anm. 5]

Der Patrizier soll (nach Lindner) in der Landschaft nördlich von Marloffstein stehen, im nahen Hintergrund wäre eine Scheune des Schlossguts Adlitz und dahinter Langensendelbach mit der Kirche zu sehen. Der Kirchturm hatte damals vermutlich ein mit einem spitzen Helm eingekröntes Fachwerkobergeschoss.

Ein starkes Argument für Lindners Hypothese ist die zweimalige Erwähnung einer großen Kanone auf Burg Marloffstein:
Die Burg Marloffstein wird im Bauernkrieg [1525, WH & GH] belagert. Der Amtmann Sigmund Pfinzing ist für die Verteidigung der Anlage für seinen Lehensherrn, den Bischof von Bamberg, verantwortlich. Die Burg ist im Gegensatz zu anderen Burgen im Hochstift besetzt und kann so der Belagerung standhalten. Die Belagerer geben wohl das Unterfangen nach einem ersten Kanonenschuss seitens der Verteidiger auf" [Quelle: zu Anm. 6]

Im Jahr 1552 brachte schließlich Markgraf Albrecht Alcibiades Krieg auch nach Marloffstein: "Am 14. Mai zogen drei Fähnlein Fußknechte und zwei Geschwader Reiter aus dem Lager gegen das Schloß Marloffstein, nordöstlich von Erlangen, das damals Sigmund Pfinzing als Pfandschaft vom Hochstift Bamberg innehatte, führten den Burgherren und seinen Sohn mit ihren Frauen, nachdem sie gebrandschatzt hatten, gefänglich fort, ließen mehr als 40 Wagen, mit Hausgerät und Vorrat beladen, mitgehen und brachten das Geschütz, das sie vorfanden, nach Forchheim." [Quelle: zu Anm. 7]

Doch die topografische Situation vor der Marloffsteiner Höhe lässt sich kaum mit der Perspektive in Dürers Grafik in Einklang bringen (Abb. 9). Das wesentliche Problem ist die Weite der Landschaft wie die mangelnde perspektivische Ausrichtung. Langensendelbach ist nicht in eine Linie mit dem Walberla zu bringen, stattdessen liegt das Schloss von Adlitz vor Augen - ein solches hat es schon zu Dürers Zeiten gegeben, ein Übergehen dieses Gebäudes erscheint kaum denkbar. Lindner erwähnt allerdings die zum Schloß gehörende Scheune, wobei er damit vermutlich das nahe (in Dürers Grafik) unterhalb der Kanone liegende Gebäude mit den vielen Dachfenstern meint. So verstanden, könnte ein benachbartes Schloss außerhalb der Bildbegrenzung gelegen haben. Wählt man einen solchen Standpunkt, würden Langensendelbach und Walberla aber noch weiter aus einer gemeinsamen Linie rücken. So kann die Marloffsteiner Höhe kaum als Vordergrund der "Großen Kanone" gedient haben.

Abb. 9 Blick über Adlitz (das Schloss vorne in der Bildmitte ist markiert) und Langensendelbach (der Kirchturm mitte links ist markiert). Um Langensendelbach auch nur einigermaßen in eine Linie mit dem Walberla zu bringen, muss man von Marloffstein aus auf der Höhe - entlang der nach Atzelsberg führenden Straße - möglichst weit nach Westen. Obwohl man dort relativ hoch gelangt, verdeckt gegenwärtig ein im Mittelgrund gelegener Wald den Blick über Langensendelbach. Zur Überwindung dieser möglicherweise zu Dürers Zeit nicht vorhandenen Sichtbarriere wurde für das Foto in dieser Collage eine Drohne eingesetzt.
Foto und Collage: Hofbauer

Ein weiteres Problem ist die visuelle Abgrenzung des Walberlas als Zeugenberg vor dem dahinter gelegenen Albrand. Dazu bedarf es guter Sicht (das Foto wurde bei relativ guter Sicht gemacht!). Dann erscheint aber hinter dem Walberla-Sattel eine Kuppe des dahinter liegendes Albrandes (siehe den weißen Pfeil über Kuppe und Sattel. Die "Große Kanone" ist hier zum direkten Vergleich mit der Landschaft seitenkorrigiert gespiegelt.



4. Eschenau und der Lindelberg

Während Rudolf Helm (siehe oben, Abb. 5) die heute im Moskauer Puschkin-Museum befindliche Vorzeichnung Dürers als zusätzlichen Beleg für den Altnürnberger Gebäudestil anführt, war das angebliche Vorkommen dieser Gebäude in Kirchehrenbach für Christof Metzger eher ein Problem. Er sah diese Häuser vor allem auf den nahen Bereich im Norden von Nürnberg konzentriert. Weitere Mängel in der Übereinstimmung mit der Ortsanlage von Kirchehrenbach mit der Vorzeichnung verstärkten die Zweifel. So machte er sich auf die Suche nach Alternativen.

Selbst ein regional kundiger Geowissenschaftler wäre bei einer solchen Suche ziemlich ratlos, wenn er in erster Linie nach anderen, dem Walberla ähnlichen Bergen suchen sollte. Metzger orientierte sich hingegen weniger an der Form des Berges als an historischen Quellen (wo ähnelt die Ortsanlage der in Dürers Stich?, wo sind Häuser im Stil Alt-Nürnberger Land zu finden?, wo stehen Schlösser von möglicherweise mit Dürer befreundeten Nürnberger Patriziern?) [zu Anm. 8 ].

So ist er schließlich nach Eschenau gekommen, wo er vom Schloss des Jakob Muffel (1471-1526) aus in einer Linie hinter Ort und Kirche den dahinter liegenden Lindelberg sehen musste: In dieser Perspektive erscheint der Lindelberg tatsächlich in der markanten Weise, die der Darstellung in Dürers Grafik nahe kommt. Zudem war Dürer mit Jakob Muffel gut bekannt, und er hat uns dessen Angesicht in einem im Jahr 1526 gemalten Portrait - einem der vielen berühmt gewordenen Gemälde der Renaissance - überliefert.

Der Lindelberg ist in seiner landschaftlichen Situation am deutlichsten von Süden von der Kalchreuter Höhe aus zu überblicken (Abb. 10). Wenn man ihn nicht kennt und nicht gezielt zu lokalisieren vermag, dann dürfte er vielen, die ihren Blick unvoreingenommen in die Landschaft schweifen lassen, nicht besonders auffallen.

Abb. 10 Blick von der Kalchreuther Höhe (nördl. des Bahn-Haltepunkts Kalchreuth) über Röckenhof auf die Berggruppe Hetzleser Berg-Lindelberg. Von diesem bekannten Aussichtspunkt erscheint der Lindelberg als eine eng mit dem Hetzleser Berg verbundene Höhe, die sich aus dieser Perspektive nur schwer mit der freigestellten Erscheinung in Dürers "Kanone" vereinbaren lässt. Foto: Hofbauer

Betrachtet man den Lindelberg hingegen über Eschenau hinweg, sieht man ihn als einen breit konturierten Tafelberg über dem Ort thronen, wobei er zugleich auch den Horizont begrenzt (Abb. 11). Man kann Dürer kaum zusprechen, diesen Berg wirklich in seiner morphologischen Charakteristik erfasst zu haben. In seiner Vorzeichnung gibt er dessen Kontur noch etwas treffender wieder, wobei jedoch das Verhältnis von Höhe zu Breite bereits überbetont ist [zu Anm. 9]. In der Radierung erscheint der Berg schließlich als das steile, felsig wirkende und so dem Walberla ähnliche Gebilde. Der Lindelberg scheint Dürer - bezogen auf die Gesamtkonzeption seiner Radierung - nicht zu einer wirklichkeitsgetreuen grafischen Wiedergabe motiviert zu haben.

Abb. 11 Blick von Muffel-Schloss in Eschenau über die Kirche zum Lindelberg. Der Standpunkt ist - nur wenig erhöht - vor dem Schloss. Dürer hatte von höheren Stockwerken im Schloss einen merklich erhabeneren Ausblick. Foto: Herbst

Die visuelle Übereinstimmung von Dürers Radierung und der Ortsanlage von Eschenau ist hingegen so deutlich, dass die Verortung kaum in Zweifel gezogen werden kann. Besonders deutlich ist das auf einem Foto aus der Zeit um das Jahr 1920 zu erkennen (Abb. 12). Metzger konnte in einem alten Ortsplan sogar noch einige Haus-Grundrisse konkretisieren. Klar ist aber auch, dass der Lindelberg bei Dürer nicht wie ein langweiliger Tafelberg erscheint, sondern eher wie eine zackige Krone über dem Ort und der Kirche sitzt. Wir denken, dass diese Veränderung künstlerisch motiviert war, weil sie der Ansicht deutlich mehr Eleganz gibt.

Abb. 12 Der Straßenzug zur Kirche und die Anlage vieler Häuser lassen keinen Zweifel an der Verortung der "Großen Kanone" in Eschenau. Die künstlerischen Freiheiten, die Dürer sich bei der Dartellung des Lindelbergs nimmt, kommen auch im Bildhintergrund rechts zum Ausdruck. Ein im Nest stehender Vogel (rot markiert im grünen Nest) könnte als humorvolles Detail gesehen werden, ebenso die Wasserfläche mit dem Hafen im Hintergrund. Nach der mündl. Mitteilung von Christof Metzger könnte diese Wasserfläche (blau markiert) von dort zu Dürers Zeit vorhanden Weihern herrühren. [Quelle: zu Anm 10]. Montage: Hofbauer


Anmerkung zum Muffel-Schloss: Das Schloss steht auf einer Höhe, die im Mittelalter eine Turmhügelburg trug. Ein Nachfolgebau ging im ersten Markgrafenkrieg im Jahr 1449 in Flammen auf. Darauf war das Gebäude über sechzig Jahre eine Ruine. Als Ersatz diente ein seit 1475 erwähntes "Großes Haus auf dem Viehhof". Jakob Muffel ließ sein Schloss von 1512 bis 1518 - also unmittelbar vor Entstehung von Dürers "Großen Kanone" - wieder aufbauen. Einen Eindruck vom damaligen Aussehen ist auf der Website des Vereins Altnürnberger Landschaft zu gewinnen [Anm ]. Die weitere Geschichte ist von mehrfacher Zerstörung und Wiederaufbau geprägt, was hier nicht weiter ausgeführt werden muss. Der aktuelle Zustand ist in Abb. 13 zu sehen.

Abb. 13 Das Muffelschloss heute. Von dieser Gebäudefront aus geht der Blick - etwas schräg gewendet - über den Ort zum Lindelberg. Foto: Herbst


FAZIT

Die nahezu selbstverständlich erscheinende Zuordnung der Großen Kanone vor das Walberla zeigt, wie populäre Vorstellungen von den "Vorzeige-Bergen" fränkischer Landschaft bei der Interpretion historischer Ansichten in die Irre führen können. Die Menschen sind in diesen früheren Zeiten noch nicht von dem uns heute eigenen visuellen Vorstellungsraum eingenommen, wie er von zahlreichen eigenen Ausflügen und die vielfach wiederholte Wiedergabe in den Medien strukturiert wird.

Es sind eher die Ansichten, die Dürer zufällig gewonnen hat - sei es vom Haller-Schloss in Kalchreuth, sei es vom Muffel-Schloss in Eschenau - die ihn zur grafischen Erfassung inspiriert oder motiviert haben. So wie wir manchmal während einer Einladung bei Freunden bemerken, dass sie eine beneidenswerte Wohnlage haben, von der aus man etwas sieht, was man so von woanders nicht sehen kann oder einfach noch nicht gesehen hat.

Die Topografie allein, oder der Bekanntheitsgrad eines Berges konnte zur Zeit Dürers somit kaum als Leitfaden zu Bildmotiven dienen. Zu seiner Zeit waren Sicherheit des Reisens und der Unterkunft, sowie ein Netzwerk von Bekannten, die als Gastgeber angesteuert werden konnten, von vorrangiger Bedeutung. Erst dann konnte sein für An- und Aussichten sensibler Blick zur Anwendung kommen, wobei sich Dürer von Fall zu Fall in unterschiedlichem Maß künstlerischer Freiheit bediente. So treffend er einerseits von der Kalchreuther Höhe aus die landschaftlichen Züge der vor ihm liegenden Schichtstufe abgebildet hat (siehe Exkursion 1), so hat er andererseits den Lindelberg, der wie ein etwas langweiliger Deckel über dem Ort liegt, zu einer schlanken, in der Gestalt differenzierten sowie in die Höhe strebenden Form gewandelt.


DANK

Herrn Reinhold Lindner (Marloffstein) für die Kommunikation der Pfinzig-Hypothese;
Herrn Dr. Christof Metzger (Albertina Wien) für zahlreiche Hinweise zum Thema;
Frau Dr. Martina Switalski ebenfalls für Hinweise zum Thema;
Herrn Uwe Rahner vom Wochenblatt Eckental für Informationen zur Präsentation in Eschenau und die Genehmigung zur Wiedergabe des von Fritz Fink zur Verfügung gestellten Fotos.


ANMERKUNGEN und QUELLEN

[1] Zahlreiche Berichte in Presse und Internet - u.a.

[1a] >> Landschaft mit Kanone: Dürer in Eschenau (Eindrücke und Fakten von Dr. Martina Switalski - Wockenklick vom 14.1.2020

[1b] >> Dürer verleiht Eschenau Flügel (Interview mit Dr. Christof Metzger)- N-Land vom 15.1.2020

[1c] >> Albrecht Dürer und Eschenau - Frankenschau vom 14.1.2020

Dazu ergänzend die Publikationen von Dr. Christof Metzger:
Metzger (2019): Albrecht Dürer. Begleitbuch zur großen Dürer-Ausstellung in der Albertina in Wien 2019.
Metzger (2019): Albrecht Dürer: Landscape with Cannon. - In: The Renaissance of Etching, ed. C: Jenkins, N.M. Orenstein & F. Spira, S. 54f.

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[2] Helm Rudolf (1940) Das Bauernhaus im Gebiet der Freien Reichsstadt Nürnberg. - Berlin (Verlagsbuchhandlung Herbert Stubenrauch).
Helm Rudolf (1978): Das Bauernhaus im Alt-Nürnberger Gebiet. - Nürnberg (Emil Jakob).
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[3] Quelle: Freiherr von Münster, Franz Karl (1822): Die Ehrenbürg bei Forchheim. Ein Walburgis-Geschenk für Dahin-Reisende. - Bamberg 1822 (Faksimilenachdruck Erlangen 1981 = Bibliotheca Franconia, Bd. 7). Siehe Frank Piontek: "Mit den Romantikern durch die Fränkische Schweiz" in Landschaften in Deutschland Online.
>> Mit den Romantikern durch die Fränkische Schweiz - Stand 19.09.2019
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[4] Der im Text genannte Leserbrief sowie Lindner, Reinhold (2002) Ergänzungen zur Geschichte Marloffsteins. - Heimatheft Marloffstein 1, S. 21 (Eigenverlag).
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[5] Pfinzing -- Porträt ca. 1508-1512, Porträtsammlung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel oder auch: Loeffelholz/Porträtsammlung 1690, Stadtarchiv Nürnberg E 17/II Nr. 2142, entnommen aus Lindner (2006) Über'n Tellerrand gschaut (Heimatheft Marloffstein 3, 3.22), bzw. Streifzug durch die Geschichte, Heimatheft Marloffstein 4, S. 6 (Eigenverlag).
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[6] Endres, Rudolf (1988): Aus der Geschichte von Marloffstein, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung 36 (1988), S. 5-42; dort S. 12;
Mayer, Manfred : Marloffstein. Marloffstein, Rathsberg, Atzelsberg, Adlitz aus Archiven, Erzählungen u. Sagen, Erlangen 1988; dort S. 43f.
siehe dazu auch:"Burg Marloffstein (1525)" (Eintragsnr.: 2453), in: Historisches Unterfranken - Datenbank zu mittelalterlichen Burgen in Franken,

>> Historisches Unterfranken- Stand 07.06.2022
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[7] Lindner Streifzug durch die Geschichte , Heimatheft Marloffstein 4, S. 10 (Eigenverlag), sowie Heimatheft Marloffstein 4, S. 6 (Eigenverlag).
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[8] siehe das Interview in [1b], sowie mündl. Mitteilung Metzger
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[9] Auf die Dürers Neigung zur Überhöhung seiner Landschaftsdarstellungen hat Christof Metzger in einem Gespräch (7.5.2022) ausdrücklich hingewiesen.
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[10] Foto Leihgabe Fritz Fink an das Wochenblatt Eckental,
>> Link Fotovorlage im Wochenblatt
Mit Einverständnis der Wochenblatt-Redaktion.
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[11] Giersch Robert, Schlunk Andreas, Haller Bertold von: Burgen und Herrensitze in der Nürnberger Landschaft, Eschenau I, Karte um 1550, Verein Altnürnberger Landschaft -
>> Link Burgen und Herrensitze
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Koordination und Redaktion: Dr. Gottfried Hofbauer